Wie Raiffeisen nach Württemberg kam...

Auch wenn Raiffeisen wohl nie in Ingelfingen oder einem anderen Ort, an dem eine der Vorgängerbanken der Raiffeisenbank Kocher-Jagst eG ihren Sitz hatte, je gewesen ist, so gibt es doch Quellen, die von einem Besuch Raiffeisens in Württemberg, genauer gesagt in Stuttgart im Jahre 1880 berichten. Dieser Besuch kann als Startschuss für die ländlichen Kreditgenossenschaften im Königreich Württemberg gesehen werden.

Aufbau der Genossenschaftsorganisation im Deutschen Reich

Die 1870er Jahre waren für den Aufbau der Organisation der Genossenschaftsbewegung – Primärgenossenschaften, Verband und Zentralbank – unheimlich wichtig. Blicken wir zunächst nach Neuwied auf die Raiffeisen-Organisation: 1872 hatte Raiffeisen erstmals eine Zentralkasse für Darlehnskassen in Neuwied gegründet (Rheinische Landwirtschaftliche Genossenschaftskasse). 1876 entstand dann die Landwirtschaftliche Central-Darlehnskasse AG als Zentralkasse aller Raiffeisen-Genossenschaften im Deutschen Reich. 1877 gründete Raiffeisen den Anwaltschaftsverband ländlicher Genossenschaften, ebenfalls mit Sitz in Neuwied. Diese Interessenvertretung der Raiffeisen-Genossenschaften unterstützte die Genossenschaften, beriet in fachlichen Fragen und nahm die zu diesem Zeitpunkt noch freiwillige externe Revision vor. Die starke Zentralisation nach Neuwied war immer Anlass für Kritik an Raiffeisens Organisation. Mit der Gründung des Verbands als Interessenvertretung und zur fachlichen Begleitung (und ab 1889 als Revisionsverband) und der Zentralkasse für den Geldausgleich sowie für komplexere Geschäfte war das Grundgerüst des heutigen Aufbaus des Genossenschaftswesens geschaffen: Primärgenossenschaften, Verbände und Zentralbanken.2

Wilhelm Haas

Auch Wilhelm Haas (1839-1913), der „dritte Mann“ im Schatten von Hermann Schulze-Delitzsch (der übrigens erst seit seiner Wahl in die Preußische Nationalversammlung 1848 den beinahmen Delitzsch nach seinem sächsischen Herkunftsort trug) und Raiffeisen war nicht untätig. Haas, der aus Darmstadt stammte, war wie Schulze-Delitzsch Jurist.3 Haas ging es vor allem um ökonomische und gesellschaftspolitische Fragen. 1873 gründete er den Verband hessischer landwirtschaftlicher Konsumvereine. Initiierte Genossenschaften, zunächst Bezug- und Absatzgenossenschaften. Eine Meisterleistung war die Gründung eines Reichsverbandes 1883 (Vereinigung deutscher landwirtschaftlicher Genossenschaften), der ab Anfang des 20. Jahrhunderts dann auch für die Vorgängerinstitute der Raiffeisenbank Kocher-Jagst eG eine wichtige Rolle spielte.

Raiffeisen in Stuttgart

Als Raiffeisen 1880 nach Stuttgart reiste, war es 14 Jahre her, dass sein Buch Die Darlehnskassen-Vereine als Mittel zur Abhilfe der Noth der ländlichen Bevölkerung sowie auch der städtischen Handwerker und Arbeiter erschienen war. Er trat am 28. Oktober 1880 in Stuttgart in der Liederhalle auf.4 Auf Einladung der Königlichen Zentralstelle für Landwirtschaft hielt er einen Vortrag über Darlehnskassenvereine, der die Gründung von elf Darlehnskassenvereinen zur Folge hatte.5 Schon vor Raiffeisens Vortrag hatte man in Württemberg über die Gründung von Kreditgenossenschaften intensiver diskutiert. Am 17. März 1880 etwa erklärte der Ausschuss des ersten Gauverbandes der landwirtschaftlichen Bezirksvereine in Schwäbisch Hall, dass die Errichtung von Kreditgenossenschaften zum einen wohl nicht notwendig sei, zum anderen für den Gauverband kaum durchzuführen. Andere hingegen verwiesen auf die bestehenden Volksbanken. Am 4. und 5. Juni tagten Landwirte in Ulm und beschäftigten sich im Rahmen eines Referates mit der Frage der Gründung von Darlehnskassenvereinen. Eine entsprechende Resolution wurde mit knapper Mehrheit abgelehnt. Erst der Vortrag Raiffeisen brachte die Sache dann ins Rollen….6 Dem Vortrag folgte die Veröffentlichung des Musterstatutes, das Raiffeisen als Grundlage für die Raiffeisenkassen entworfen hatte. Dieses war zugleich Grundlage der ersten ländlichen Kreditgenossenschaften in Württemberg.

Die Gründung eines württembergischen Genossenschaftsverbandes

Den ersten elf Darlehnskassenvereinen folgten im ersten Halbjahr des Jahres 1881 weitere 25 Gründungen. Am 7. Juni 1881 trafen sich Vertreter dieser Genossenschaften, um einander kennenzulernen und über eine gemeinsame Interessenvertretung nachzudenken. Raiffeisen hatte aus Neuwied einen Vertreter geschickt, der die Darlehnskassenvereine überzeugen sollte, dem Anwaltschaftsverband beizutreten. Die Versammlung entschied sich jedoch für die Gründung eines eigenen, württembergischen Verbandes. Am 26. Juni 1881 wurde der Verband landwirtschaftlicher Kreditgenossenschaften in Württemberg gegründet. 23 Vereine mit rund 1.150 Mitgliedern traten dem Verband bei. Erster Verbandsvorsteher wurde der Landwirtschaftsinspektor Julius von Leemann.7

Anfang 1882 bestanden in Württemberg 57 Darlehnskassenvereine:8
Neckarkreis 20
Schwarzwaldkreis 10
Jagstkreis 10
Donaukreis 17

Im ehemaligen Jagstkreis waren die ersten Kreditgenossenschaften in Rinderfeld (1880), in Belsenberg, Neubronn, Michelbach und Vellberg (alle 1881) entstanden.9 Wie auch die Raiffeisen-Kreditgenossenschaften betrieben die württembergischen Darlehnskassenvereine gemeinschaftlichen Einkauf von landwirtschaftlichen Bedarfsartikeln. Als Geldausgleichsstelle unter den Kreditgenossenschaften diente zunächst die Königliche Hofbank in Stuttgart.10 Hier konnten Darlehen durch die Kreditgenossenschaften aufgenommen werden.11 Mit dem Inkrafttreten des Genossenschaftsgesetzes von 1889 musste der Verband das Revisionsrecht beantragen und seine Satzung ändern. Zwar hatte der Verband bereits vor 1889 die Revision der Kreditgenossenschaften durchgeführt, allerdings auf freiwilliger Basis. Nun wurde sie gesetzlich vorgeschrieben.12

1893 erfolgte schließlich die Gründung der Landwirtschaftlichen Genossenschaftszentralkasse eGmbH. 1897 kam eine gemeinsame Bezugsstelle hinzu. Diese Öffnung für alle Genossenschaften führte 1899 zur Umfirmierung in Verband landwirtschaftlicher Genossenschaften in Württemberg e.V.13 Der Verband kümmerte sich seit seiner Gründung um eine einheitliche Buchführung, entwarf Formulare, Bücher, Anleitungen und Musterstatuten für die Kreditgenossenschaften.14 Ab 1912 bot der Verband auch eigene Kurse für Rechner (Geschäftsführer) an, um den „neu bestellten Rechnern die Arbeit zu erleichtern.“15 Die Zahl der Genossenschaften wuchs bis Anfang des 20. Jahrhunderts stetig weiter. Ziel der Bewegung war ein Netz aus Genossenschaften über das ganze Deutsche Reich zu spannen – in jedem Ort sollte eine Kreditgenossenschaft bestehen.16

Anzahl der Genossenschaften in Württemberg und im Jagstkreis von 1881 bis 190017
  Württemberg
Jagstkreis
1881 24 3
1885 112 28
1890 274 80
1895 649 179
1900 860 209
Beitritts-Erklärung des am 6. Juni 1885 gegründeten Darlehnskassen-Vereins Hollenbach zum Verband landwirtschaftlicher Creditgenossenschaften in Württemberg, unterschrieben vom Vereinsvorsteher (Vorstandsvorsitzenden) Schultheiß Ehrmann und den weiteren Vorstandsmitgliedern Pfarrer Ebert, Conrad Schmezer, Michael Albrecht und Johann Renner. Quelle: 100 Jahre Raiffeisenbank Hollenbach. 1885-1895. Festschrift, S. 20.
Beitritts-Erklärung des am 6. Juni 1885 gegründeten Darlehnskassen-Vereins Hollenbach zum Verband landwirtschaftlicher Creditgenossenschaften in Württemberg, unterschrieben vom Vereinsvorsteher (Vorstandsvorsitzenden) Schultheiß Ehrmann und den weiteren Vorstandsmitgliedern Pfarrer Ebert, Conrad Schmezer, Michael Albrecht und Johann Renner. Quelle: 100 Jahre Raiffeisenbank Hollenbach. 1885-1895. Festschrift, S. 20.

Zu den oben genannten „alten Weingärtnergesellschaften“ kamen in den 1890er Jahren übrigens Weingärtnergesellschaften in der Rechtsform der eingetragenen Genossenschaft hinzu. Die 1892 in Ingelfingen gegründete Weingärtnergesellschaft wurde 1898 – als erste – in eine eingetragene Genossenschaft umgewandelt. Bis 1914 entstanden im Königreich 20 Weingärtnergenossenschaften.18

Wie der Darlehnskassen-Verein Hollenbach, so trat auch der Darlehnskassen-Verein Dörzbach, gegründet am 5. April 1884, dem Verband landwirtschaftlicher Kreditgenossenschaften bei. Neben dem Beitritt zum Verband wurde der Verwaltungsrat (Aufsichtsrat) ermächtigt, ein Konto bei der Königlichen Hofbank zu eröffnen und hier Anlehen aufzunehmen. Wichtig – wie auch von Raiffeisen immer wieder gefordert – war die Beschränkung auf einen bestimmten, überschaubaren Geschäftsbezirk (wie etwa das Kirchspiel), so dass in Dörzbach etwa die Geschäftstätigkeit auf die Einwohner von Dörzbach beschränkt wurde. Alle Genossenschaften wurden in das Genossenschaftsregister eingetragen. Hier wurde zunächst überprüft, ob die Statuten dem Gesetz entsprachen. So wurde etwa beim königlichen Amtsgericht in Künzelsau die Genehmigung zum Betrieb des Darlehnskassen-Vereins Buchenbach (gegründet 1885) nur unter der Bedingung genehmigt, dass der Geschäftsverkehr auf Mitglieder beschränkt bleibt, die in der Kirchengemeinde Buchenbach leben. Zudem waren alle Ortschaften und Höfe in diesem Bezirk aufzuführen.21

Isolierter Weg bis 1915

In Württemberg hatte man sich, wie etwa auch im Rheinland, in Westfalen und in anderen Provinzen und Königreichen, zur Gründung eines eigenen Verbandes entschieden, und mehrheitlich nicht für den Anschluss der Kreditgenossenschaften an den Anwaltschaftsverband von Raiffeisen in Neuwied. Viele andere regionale Verbände suchten bereits seit 1883 oder direkt nach ihrer Gründung den Anschluss an den von Haas gegründeten Reichsverband als Dachorganisation, andere agierten zunächst ‚nur‘ als regionale Verbände, so etwa ein in Trier ansässiger Verband und so auch der württembergische Verband.

Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 kamen die Neugründungen ins Stocken. Viel schlimmer, die Revisionen konnten nicht mehr regelmäßig durchgeführt werden. Es fehlte Personal. 1918 richtete der Verband eine Bücherprüfstelle ein, damit die Kontrolle der Buchführung nachgeholt werden konnte. Um die Wahrnehmung des Genossenschaftswesens in der Öffentlichkeit vor allem auch gegenüber dem Gesetzgeber und der Verwaltung zu verbessern, entschied sich der Verband für den Anschluss an Haas‘ Reichsverband. Als Gegenpol zu dieser Zentralisation führte der Verband im Frühjahr 1919 Bezirksverbände ein, die jeweils die Oberamtsbezirke umfassten. An der Spitze standen Bezirksobmänner. Diese Bezirksverbände waren Bindeglied zwischen dem württembergischen Verband und den Genossenschaften vor Ort – verstand man doch vor Ort am besten die Bedarfe der Menschen. Auch die Revision wurde nach dem Ersten Weltkrieg neu organisiert. An die Stelle der bisherigen Revisionsabteilung in Stuttgart traten Revisionsstellen über ganz Württemberg verteilt.22

Fußnoten

Archiv der Raiffeisenbank Kocher-Jagst eG, Protokollbuch der Generalversammlung des Darlehnskassenvereins Marlach, 1892-1929 (unverzeichnet).  

Frauke Schlütz: Wilhelm Haas. In: Sozialreformer, Modernisierer und Bankmanager. Biographische Skizzen aus der Geschichte des Kreditgenossenschaftswesens. Hg. v. Institut für Bankhistorische Forschung e.V. im Auftrag der DZ BANK AG, München 2016, S. 197.

Zu Haas ausführlich ebd., S. 191-212.

4 Heinz Bohn: Schwäbischer Albverein. Ortsgruppe Essingen. Von der Gründung bis zum 125-jährigen Bestehen 2017, Norderstedt 2018, S. 24.

5 Manfred Pohl: Baden-Württembergische Bankgeschichte, Stuttgart/Berlin/Köln 1992, S. 64. Siehe vor allem Jürgen Schramm: Entstehung, S. 55-58.

6 Karl Grabherr: Die Entwicklung des landwirtschaftlichen Genossenschaftswesens ins Württemberg, Köln (1934), S. 7-8.

7 Klaus Herrmann: Leemann, Julius von. In: Neue Deutsche Biographie 14 (1985), S. 53 f. [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd133227758.html#ndbcontent.

8 Karl Grabherr: Entwicklung, S. 9.

9 Jürgen Schramm: Die Entstehung der landwirtschaftlichen Kreditgenossenschaften im 19. Jahrhundert in Württemberg, (Hohenheim) 1963, S. 64.

10 Zur Königlichen Hofbank etwa Pohl: Baden-Württembergische Bankgeschichte, Kapitel 4.

11 Karl Grabherr: Entwicklung, S. 9.

12 Ebd., S. 13.

13 Ebd., S. 15.

14 Jürgen Schramm: Entstehung, S. 81.

15 Karl Grabherr: Entwicklung, S. 63.

16 Frauke Schlütz: Ländlicher Kredit. Kreditgenossenschaften in der Rheinprovinz (1889-1914) (Schriftenreihe des Instituts für bankhistorische Forschung 25), Stuttgart 2013, S. 39; siehe Hinweise auf Rede von Finanzminister Dr. Johann von Miquel (Initiator der Preußenkasse, heute DZ BANK) in August Hillringhaus: Die Preussische Zentralgenossenschaftskasse, ihre Aufgaben und ihr Wirken aus 25-jähriger Tätigkeit, Berlin 1922, S. 23, 90.

17 Jürgen Schramm: Entstehung, S. 84.

18 Karl Grabherr: Entwicklung, S. 29.

19 Schultheiße standen an den Spitzen der Gemeinden. Als Stellvertreter oder Gehilfe stand ihnen ein Anwalt zur Seite. Der Schultheiß war Vertreter der Herrschaft und wurde daher manchmal auch als Amtmann bezeichnet. Siehe hierzu etwa Theodor Knapp: Neue Beiträge zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte des württembergischen Bauernstandes, Band 1, Tübingen 1919, S. 95. Schultheiße standen an den Spitzen der Gemeinden. Als Stellvertreter oder Gehilfe stand ihnen ein Anwalt zu. (Darstellung fehlt aktuell noch.)

20 100 Jahre Raiffeisenbank Hollenbach. 1885-1895. Festschrift, S. 20.

21 100 Jahre Raiffeisenbank Buchenbach eG. Festschrift, 1985, S. 9.

22 Karl Grabherr: Entwicklung, S. 36.