Sehr geehrte Damen und Herren,
ich freue mich sehr über die Einladung zu Ihrer Jubiläums-Generalversammlung.
· 125 Jahre Ingelfinger Bank,
· 130 Jahre Raiffeisenbank Niedernhall,
· und 200. Geburtstag von Friedrich Wilhelm Raiffeisen.
Drei wirklich gute Gründe zurückzublicken.
Ingelfingen im späten 19. Jahrhundert
Blicken wir erst einmal in die Gründungsjahre. In einer Beschreibung von Ingelfingen, die das Königlich Statistisch-Topographische Büro 1883 herausgegeben hatte, hieß es:
„Die Hauptstraßen der Stadt sind sauber, chaussirt und gekandelt, (…). Die Einwohner sind von mittlerer Konstitution, wie sie der herrschende mühevolle Weinbau allmählich erzeugt. (…) Es herrscht Fleiß, Betriebsamkeit und kirchlicher Sinn vor. Die Ansprüche an das Leben sind beim größten Theil der Einwohnerschaft sehr bescheiden; der gemeine Mann lebt sehr einfach. Bei dem in Folge der anhaltenden Fehljahre eingetretenen Mangel an stärkendem gesundem Getränk muß der Branntwein, der nur vorübergehendes Kraftgefühl erzeugt, dem schwer arbeitenden Volk mehr, als er in Wahrheit verdient, als Stärkungsmittel dienen. Die Haupterwerbsmittel sind Weinbau und Feldbau. (…). Das Auskommen der Einwohner ist zwar bei günstigen Weinjahren gesichert, aber in Folge mehrerer Fehljahre nothdürftig. Der vermöglichste Einwohner besitzt ca. 8 Hektar, der Mittelmann 3, die ärmere Klasse oft kaum 25 Ar. (…) Gewerbe sind ziemlich vollständig vorhanden. (…) Den Hauptverkehr vermittelt die Kocherthalstraße nach Künzelsau und Niedernhall. Eine weitere Vizinalstraße führt nach Diebach mit Abzweigungen nach Dörrenzimmern und Hermuthausen.“1
Der Gewerbeverein Niedernhall
Ferner wurde in den „Beschreibungen des Oberamtes Künzelsau“ die Stadt Niedernhall mit ihren damals rund 1.500 Einwohnern ausführlich dargestellt. Auch in dieser Beschreibung von Niedernhall wurde der unsichere Ertrag der Weinberge herausgestellt, die Größen der landwirtschaftlichen Betriebe wurden ähnlich beschrieben, bei allerdings noch kleinerem Grundbesitz.2 Die ansässigen Gewerbetreibenden, die sich 1867 zum Gewerbeverein Niedernhall zusammengeschlossen hatten, thematisierte früh auch die so genannte Kapitalnot der Gewerbetreibenden. „Kapitalnot“ war vielleicht nicht das richtige Wort. So aber wurde von den Zeitgenossen das Problem verkürzt beschrieben. Gemeint war das Fehlen von Finanzintermediären: Von Banken, die Kredite zu passenden Konditionen vergaben, mit entsprechenden Laufzeiten und der Verlässlichkeit, diese auch einzuhalten. 1888 gründeten die Mitglieder des Gewerbevereins schließlich einen Darlehnskassenverein, die spätere Raiffeisenbank Niedernhall.
Gründung der Ingelfinger Bank – Raiffeisen – eG
In Ingelfingen waren es fünf Jahre später die gleichen Beweggründe, die zur Gründung des Ingelfinger Darlehnskassen-Vereins führten: Das Fehlen einer Bank, die das Geschäft der Ingelfinger Weingärtner, der Landwirte und Gewerbetreibenden verstand. Angestoßen wurde die Gründung von Joseph Rilling, dem Stadtschultheißen von Ingelfingen. Er selbst war bis 1905 Vorstand der Bank. 26 Personen beteiligten sich an der Gründung. Die Genossenschaftsbank trat dem in Stuttgart ansässigen Verband landwirtschaftlicher Genossenschaften in Württemberg bei.3
Seit 1889 hatten alle Kreditgenossenschaften laut Genossenschaftsgesetz einem Verband beizutreten. Dieser übernahm – wie heute noch – die Revision, unterstützte bei einfachen und komplizierten Fragestellungen, druckte Formulare und sorgte dafür, dass diese allen gesetzlichen Anforderungen entsprachen. Das waren damals wichtige Hilfestellungen, denn keiner der Vorstände oder auch der Rechner war ein ausgebildeter Bankkaufmann.4 Dem ersten Vorstand gehörten neben Rilling, vier Weingärtner an, die alle zwar ihre Betriebe führten, von Bankgeschäft aber keine Ahnung hatten. Erster Rechner, wir würden heute Geschäftsführer sagen, war Georg Ott, ein Weingärtner und der Stiftungspfleger der Stadt.
Der Aufsichtsrat, der bei der Gründung aus fünf Weingärtnern, einem Fuhrmann und zwei Steinhauern bestand,5 kontrollierte intern in regelmäßigen, teils vierwöchentlichen Abständen die Geschäftsführung. Der Revisor kam mindestens alle zwei Jahre, um die wirtschaftlichen Verhältnisse der Genossenschaft und die Ordnungsmäßigkeit der Geschäftsführung zu prüfen.6 So halfen also die Anleitungen des Verbandes in Form von kleinen Büchern, die ganzen Vordrucke und insbesondere auch die Revision.
Auch waren alle Genossenschaften damals schon einer Zentralkasse angeschlossen, einer Zentralbank, bei der die Genossenschaften Anleihen (Anlehn) aufnehmen konnte und „müßigliegendes“ Kapital gegen Zinsen deponieren konnte. Zunächst diente die Königliche Hofbank in Stuttgart als Geldausgleichstelle. Ziemlich zügig wechselte die Genossenschaft dann zur Landwirtschaftlichen Genossenschaftszentralkasse eGmbH, die im Sommer 1893 gegründet wurde.7
Die Ingelfinger Genossenschaft basierte zwar nicht rein auf den Musterstatuten von Friedrich Wilhelm Raiffeisen, was etwas mit der besonderen Entwicklung in Württemberg zu tun hat, folgte aber eben genau dem Geiste Raiffeisens. Bereits im Sommer 1893, also nur ein halbes Jahr nach der Gründung der Bank, kam genau das in einer Entscheidung zum Ausdruck, was Genossenschaftsbank – ganz im Sinne Raiffeisens – sein soll: Der Sommer 1893 war überall sehr trocken, wirkte sich in ganz Württemberg erheblich auf die Ernte und damit auf wirtschaftliche Lage der ländlichen Bevölkerung aus. Wegen der enormen Dürre beschlossen die Mitglieder in einer außerordentlichen Generalversammlung, gemeinschaftlich Futtermittel einzukaufen und wer nicht zahlen konnte, dem wurde der Betrag gestundet.
Friedrich Wilhelm Raiffeisen
Warum ganz im Sinne Raiffeisens? Wer war dieser Raiffeisen? Das muss ja ein „ganz besonderer Typ“ gewesen sein, wenn man dieser Tage mit doch nicht unerheblichem Aufwand den 200. Geburtstag dieses Mannes feiert.
Feststeht: Raiffeisen selbst ist nie in Ingelfingen gewesen. Dennoch fühlt es sich so an. Der „Geist“ Raiffeisens, seine Ideen und die Werte, für die er stand, wirken bis heute – das spürt man deutlich.
Friedrich Wilhelm Raiffeisen wurde am 30. März 1818 als siebtes von neun Kindern in Hamm im Westerwald geboren. Sein Vater war Bürgermeister, stammte aus Schwaben, hatte hier eine landwirtschaftliche und eine kaufmännische Ausbildung beim Fürsten Hohenlohe-Waldenburg absolviert. Seine Mutter war die Tochter eines Schultheißen, also eines Amtsmannes wie Rilling. Sein Vater verlor wegen Veruntreuung seinen Posten. Raiffeisen selbst wuchs daher in finanziell einfachen Verhältnissen auf – für eine bessere Schulbildung fehlte das Geld. Mit 17 trat er freiwillig ins Militär ein. Nach der Ausbildung in der Artillerie durfte er die Inspektionsschule in Koblenz besuchen. Hier wurde er zum Oberfeuerwerker ausgebildet. Mit Anfang 20 wurde er Leiter der Materialprüfung in einer Eisengießerei in Sayn und war damit für die Kontrolle und Qualitätssicherung der Munition verantwortlich. Wichtige Eindrücke wird er von hier mitgenommen haben, etwa die Armut der Arbeiter – nicht nur finanziell, sondern auch sozialhygienisch, wie es damals hieß. Mangel an Bildung, Kultur, schlechte Wohnverhältnisse, Perspektivlosigkeit.8
Seit 1845 war Raiffeisen Bürgermeister der Samtgemeinde Weyerbusch im Westerwald. Sein erstes Amtsjahr war gleich von einem enormen Ernteausfall gekennzeichnet. Die folgende Hungersnot konnte er in seiner Gemeinde nur in den Griff bekommen, weil er sich nicht an staatliche Vorgaben hielt, Vertrauen in die Menschen hatte und mit Hilfe einiger finanziell besser gestellter Bürger Getreide an ärmere Einwohner zum reduzierten Preis und auf Schuldschein ausgab. Von diesem Winter an beschäftigte sich Raiffeisen damit, wie er die Situation der Menschen auf dem Land – aber auch in der Stadt verbessern konnte. Alle Gedanken und praktischen Hinweise schrieb Raiffeisen in seiner 1866 erschienen Publikation Die Darlehnskassen-Vereine als Mittel zur Abhilfe der Noth der ländlichen Bevölkerung, sowie auch der städtischen Handwerker und Arbeiter auf.9
Das Buch fand eine interessierte Leserschaft – vor allem unter organisierten Landwirten, den berufsständischen Interessenvertretungen der Landwirte, wie den Bauernvereinen, ganz besonderes Interesse beim Landwirtschaftlichen Verein für Rheinpreußen.10 14 Jahre nach der Veröffentlichung seines Buches reiste Raiffeisen nach Stuttgart. Am 28. Oktober 1880 trat er hier in der Liederhalle auf und hielt auf Einladung der Königlichen Zentralstelle für Landwirtschaft, einer dieser genannten Organisationen der Landwirte, einen Vortrag über Darlehnskassenvereine. Dieser Vortragsveranstaltung folgte die Gründung von elf Darlehnskassenvereinen.11
Schon vor Raiffeisens Vortrag hatte man in Württemberg intensiver über die Gründung von Kreditgenossenschaften diskutiert – so richtig ins Rollen kam die Sache bis dahin nicht. Dem Vortrag von Raiffeisen folgte dann die Veröffentlichung des Musterstatutes für Darlehnskassen-Vereine, das Raiffeisen als Grundlage für alle Raiffeisenkassen entworfen hatte. Diese Mustersatzung war die Grundlage der ersten ländlichen Kreditgenossenschaften in Württemberg. 1882 bestanden im damaligen Jagstkreis zehn Darlehnskassenvereine.12
Zu den ältesten Kreditgenossenschaften im Geschäftsgebiet zählen Dörzbach, gegründet 1884, Hollenbach und Buchenbach, die 1885 gegründet wurden. Alle traten dem Verband in Stuttgart bei und basieren damit auf den gleichen, typisch „württembergischen“ Musterstatuten.13 Wichtig – wie auch von Raiffeisen immer wieder gefordert – war die Beschränkung auf einen bestimmten, überschaubaren Geschäftsbezirk (wie das Kirchspiel). Diese Beschränkung war Ursache für eine flickenteppichartige Entwicklung der Darlehnskassenvereine – in jedem Dorf eine Kasse.